The Seeress, 2021

Wisst ihr nun noch etwas?
Aus Die Weissagung der Seherin (Völuspá), Die Götterlieder der Älteren Edda, Hrsg. Arnulf Krause, 2018




Du hast für die Ausstellung im PROJEKTRAUM im AF die raumspezifische Installation The Seeress entwickelt. Kannst du zunächst etwas zum Titel der Arbeit sagen?
Der Titel The Seeress bezieht sich auf ein Gedicht aus der sogenannten Älteren Edda, einer Sammlung altnordischer Götter- und Heldenlieder. Diese Sammlung ist die wichtigste Quelle unseres Wissens über die Geschichten und Figuren der nordischen Mythologie. Das erste Götterlied heißt Völuspá, übersetzt: Die Weissagung der Seherin. Die Seherin berichtet von der Entstehung und dem Ende der Welt, dem Weltuntergang und der damit verbundenen Neuentstehung.
Was fasziniert dich an den nordischen Mythen?
Ich interessiere mich generell für alte Mythen, da sie viel über unsere menschliche Natur und unseren Ursprung erzählen. Mit der nordischen Mythologie, im Speziellen mit dem ersten Götterlied der Älteren Edda, beschäftige ich mich intensiv seit meinem Aufenthalt in Norwegen, wo ich 2019 Artist in Residence in Bergen war.
Die große Leinwand ist das zentrale Element der Installation. Kannst du etwas zum Entstehungsprozess dieser Leinwand sagen?
Die Leinwand bildet sozusagen den Boden der Installation. Sie lag, mit Erdpigmenten versehen, über längere Zeit im Wald. Die Naturkräfte und die im Wald lebenden Tiere haben sie „bearbeitet“. Mir war wichtig, dass die Natur die Gestaltung übernimmt.
Du setzt deine Materialien oft den Naturkräften aus. Gleichzeitig nutzt du sehr „blanke“ Materialien wie Bronze. Welche Rolle spielen diese unterschiedlichen Materialitäten in deinen Arbeiten?
Die Auswahl der Materialien ist inhaltlich bestimmt, wobei mir als Bildhauerin das Taktile sehr wichtig ist. Es geht also Hand in Hand. In dieser Arbeit war mir wichtig, dass alle vier Elemente vertreten sind: Erde, Wasser, Luft, Feuer als Prinzipien des Festen, des Flüssigen, Gasförmigen und glühend Verzehrenden.
Die Objekte innerhalb der Installation haben einen starken symbolischen Charakter. Kannst du etwas zu den einzelnen Objekten sagen?
Der Fingerzeig, so nenne ich die Plastik jetzt mal, bezieht sich unter anderem auf die Seherin. Insgesamt neun Mal frägt sie: „Wisst ihr nun noch etwas?“. Das fand ich sehr spannend, da auch ich mich direkt angesprochen fühlte, obwohl das Gedicht schon im Mittelalter entstanden ist. Der Stab ist ein wichtiges Utensil der Seherin. Das Rentierfell mit der irdenen Maske verweist auf die Mittlerrolle des Tieres zwischen Mensch und Natur. Bei der Maske war mir die Identifizierung mit der Erde wichtig. Beide Elemente der Plastik verweisen auf die Möglichkeit, den Zugang zu einer anderen Welt zu erlangen: Bei den Samen und Inuit zum Beispiel gelten Rentiere als Schamanentiere, die Reisende in die Anderswelt hinein- und aus ihr herausführen. Und auch die Maske ermöglicht ihrem Träger den Zugang zu einer anderen Welt. Die verkohlte Esche spielt auf den Weltenbaum Yggdrasil und den drohenden Untergang an. Das Fusspaar aus Bronze steht in Richtung Leinwand und weist auf eine Innenschau hin. Wie bei Caspar David Friedrich: der Blick ins Bild.
Du befasst dich mit wissenschaftlichen Theorien, die die Aufhebung der Unterscheidung von Kultur und Natur vorschlagen. Inwieweit versuchst du diese Unterscheidung innerhalb deiner Arbeiten zu überwinden?
Ich stelle mir und in meiner Arbeit die Frage, wie wir bewusster mit unserer Umwelt umgehen können. Das „Shhhh!“ der Naturvölker gegenüber der Natur ist dabei eine große Inspiration. Für sie gab und gibt es die Trennung zwischen Kultur und Natur nicht. Für sie ist jedes Ding beseelt. Sie lauschen, was ihnen der Baum, das Wasser, das Wetter etc. mitzuteilen hat.
Welche Rolle kann Kunst bei der Überwindung dieser Unterscheidung spielen?
Indem die Kunst sichtbar macht, Wege aufzeigt.
(Das Interview führte Corinna Bimboese mit Sabine Kuehnle anlässlich der Ausstellung im Atelierfrankfurt.)

canvas (1000 x 215 cm), earth pigments, charred ash wood, bronze, reindeer skin, fired clay, string, hazel branch
dimensions variable
Photos: Ulla Kuehnle